Von der Laufrunde in einem Entspannt-Glücklich Modus stelle ich schon mal die Bestandteile des Frühstücks zusammen: Schwarzbrot mit Rührei, nein, doch lieber Obst mit Müsli…An der linken Seite sehe ich ein ganzes Meer von Papablumen, kleine rote Glücksklee-Blumen. Ich denke: Nimm mal eben kurz 2 von denen hier mit, sie blühen einfach gerade so herrlich.

Ich bremse mein Rad ab und mache eine kleine Drehung, um besser an die Blumen zu kommen. Geradewegs zu auf eine Frau. Sie wird langsamer und wirkt etwas wackelig auf ihrem Rad.

Ich sehe sie an, lächele und will mich gerade um sie herumschlängeln, da höre ich: »Entschuldigen Sie, kann ich Sie etwas fragen?« Ich sehe sie aufmerksam an und nicke. »Wissen Sie, wo das Krankenhaus hier in der Nähe ist? Bin ich auf dem richtigen Weg? Muss ich hier gleich rum?«

 

Traurigkeit

Erst jetzt nehme ich die Frau näher in mein Visier: Ende 60 und irgendwie sehr ordentlich angezogen. Meine Großmutter hätte adrett dazu gesagt. blonder Kurzhaarschnitt und mir fällt auf, wie schön sie ist. Nur ihre Gesichtszüge wirken sehr müde und erzählen mir sekundenschnell eine kleine Geschichte von Traurigkeit.

»Nein, sage ich, das ist der falsche Weg. Sie müssen zurück.« Die Frau seufzt. Sie ist erschöpft und ihre kleine Verzweiflung macht sich zwischen unseren Rädern breit. Ich spüre ganz deutlich: Hier geht es um mehr, als um den falschen Weg. »Haben Sie es eilig?« frage ich. Ja, sagt sie und ich fühle ihre Erleichterung über meine Frage. Das Krankenhaus, es ist doch nur bis 12 geöffnet. Jetzt ist es schon fast 11.« Okay, denke ich, zähle eins und eins zusammen und weiß jetzt, hier geht es um etwas Elementares für diese Frau.

 

KOPF UND HERZ

»Das Krankenhaus ist in dieser Richtung, sage ich und zeige mit meiner Hand in die entgegengesetzte Richtung. Sie müssen geradeaus, dann links bis zum Ende und wieder rechts, dann irgendwann kommt die kleine Straße, da ist es nicht mehr zu übersehen.»

Während ich meine Beschreibung auf ihre Nachfragen hin zweimal wiederhole, spricht mein Kopf mit mir. »Was denkst du, wie oft verfährt sich diese Frau, bis sie endlich an ihr Ziel kommt?«

Und als der Kopf gerade Luft holt, um seinen Appell zu wiederholen, meldet sich das Herz.

Mein Herz japst: »Jetzt echt, Lotte, sieh mal hin. Was soll diese olle blöde Beschreibung? Du siehst doch, dass diese Frau fix und fertig ist und den Weg niemals bis 12 Uhr findet.«

 

KLEINE FRAGEN

Noch während die Beiden sich gar nicht mehr einkriegen vor Kampfgeist und Solidarität für die fremde Frau, verabschiede ich mich von meinem Frühstücksplan und höre mich sagen: »Ich bringe Sie kurz, dann kommen sie auf jeden Fall in 20 Minuten an.« Die Frau macht gar keinen Versuch, mein Angebot höflich abzulehnen. Sofort dreht sie Ihr Rad und instruiert mich, lieber vorzufahren.

Wir fahren sehr zügig, ich vor ihr und sie hinter mir. Ab und zu drossle ich das Tempo und stelle ihr kleine Fragen: »Wen besuchen Sie?« »Meinen Mann« »Oh!« Mein Herz und mein Kopf und ich, wir drei sehen die Frau erschrocken an. Die Frau ist stumm.

 

ICH SCHÄME MICH

Ich trete sehr fest in die Pedale und sehe mich um, ob sie mir folgen kann. Sie wirkt sehr entschlossen, hier jetzt keine Schwäche zu zeigen. »Es ist hoffentlich nichts Schlimmes«, rufe ich ihr zu, obwohl ich mir an 3 Fingern abzählen kann, dass es auf jeden Fall etwas schlimmes ist. »Etwas mit der Lunge.» Ich erwidere nichts. »Ziemlich plötzlich….aber bloß nie zum Arzt«

Ihre Stimme wird immer leiser, im Fahrtwind nehme ich sie nur noch mit Mühe wahr. Ich versuche, meine zuversichtlich klingen zu lassen: »Ja, Männer!« Dabei fühle ich mich hilflos und schäme mich, nur eine kleine Floskel zu haben in diesem Moment im Park auf dem Rad vor einer Frau, die auf dem Weg ist zu ihrem schwerkranken Mann ins Krankenhaus.

 

OHREN AUF

Und als ob das noch nicht genug Verzweiflung ist für einen Augenblick, erzählt sie von all den Dingen, die jetzt nicht mehr sind. »Den Garten mussten wir auch aufgeben…« Fast möchte ich mir die Ohren zuhalten, so viel Traurigkeit klatscht von ihr ungebremst auf mich.

Aber dann mache ich meine Ohren weiter auf, als ich es für möglich gehalten hätte ohne Frühstück. Und alles, was diese Frau mir während der Fahrt erzählt, ist der kleine Hinweis vom Leben: dass es endlich ist. Und dass es in seiner Schönheit nicht ewig auf uns wartet – Es wartet nicht auf morgen, nicht auf nächstes Wochenende oder nächstes Jahr.

 

DAS LEBEN IST JETZT

Das Leben ist jetzt. Und egal, wie oft dieser schlichte Satz schon bemüht wurde, um die Oberflächlichkeit nicht voll gelebter Tage in die Schranken zu weisen – er ist es jeden Tag wert, ihn zu wiederholen. Das Leben ist jetzt!

Ich nehme noch mehr Fahrt auf, damit sie so schnell wie möglich da ist, wo sie jetzt sein will: bei ihrem Mann. Wir heizen um die Ecken und endlich kommen wir an einer kleinen Abbiegung an. Die große Straße vor dem Krankenhaus ist zu sehen.

Die Frau und ich bleiben stehen. »Wir sind da« sage ich. »Ich wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute« Sie greift zu meiner Hand und ich nehme ihre. In diesem Moment weiß ich, warum dieser kleine Weg kein Umweg war. Die Frau sagt: »Danke! Wenn Sie mich in der Stadt sehen und ich erkenne Sie nicht, bitte sprechen Sie mich an.« Ich lächele sie an. »Ja, das mache ich. Ich bin übrigens Charlotte. Sie hat sich schon umgedreht und nimmt Kurs auf zur großen Straße.

 

Versprochen

Ich wende mein Fahrrad und radele nach Hause. Sehr, sehr schnell. Nach ungefähr 100 Metern bedanke ich mich bei Herz und Kopf. »Gut gemacht!« Beide sind seelig. »Aber eins noch, Ihr Beiden.« Sie sehen mich gespannt an. »Wir werden unser Leben unbedingt mit allen Sinnen genießen, versprochen? Ihr wisst ja, dass auch bei uns eine Zeit kommen wird, in der wir uns von Menschen verabschieden müssen, die wir lieben.« Beide nicken ehrfürchtig.

»Aber bis dahin – das verspreche ich euch!!«, sage ich ganz laut vor mich hin und ich weiß, dass die Beiden mich auf ewig darauf festnageln werden, »bis dahin leben wir ein richtig großartiges Leben! JETZT!!!«