Mein Weihnachtsessen mit Freunden steht vor der Tür. Dieses Jahr wünschte ich mir einen besonderen Menschen an unseren Tisch dazu. Er ist schon sehr alt und auch sehr weise. Sein Name ist Aristoteles. Ich weiß nicht wirklich, ob er Lust hätte, mit mir und meinen Freunden zu essen, aber ich bin mir sicher – Aristoteles würde sich herrlich mit uns amüsieren.
Wahrscheinlich würde er Weihnachten gar nicht verstehen. Er war ja schon nicht mehr lebendig, als Weihnachten die Zeit veränderte. Na ja, egal. Er kommt ja auch gar nicht.
Dachte ich… bis gestern. Heute morgen aber finde ich eine kleine Notiz vom ihm im Briefkasten.
»Danke für die nette Einladung. Kein Problem – ich komme sehr gerne. Bin aber erst um 18 Uhr da. Liebe Grüße! Aristoteles.«
Ich falte den kleinen Papierzettel zusammen und kann es kaum glauben. Er kommt!! Juchuh. Meine Gesichtsfarbe wechselt innerhalb von Sekunden von blass auf frisches Rot. Jetzt gibt es kein Zurück. Der Meister der minimalistischen Philosophie kommt zu mir zu Besuch. Ich denke an mein schlichtes Weihnachtsmenü: Fisch, Kartoffen und Rosenkohl/Brokkolie. Ist das schlicht genug für einen Menschen, der behauptete:
»Ein glücklicher Mensch besitzt nur sich selbst.
Alles andere ist nicht wichtig.«
-Aristotelss-
Ich überlege kurz, gar nichts zu kochen und stattdessen lieber einen Wodka auf den Küchentisch zu stellen. Trinken war doch im alten Rom auch sehr populär. Ausserdem ist alles, was die Zunge löst, sehr willkommen. Wenn ich nervös bin, bringe ich meistens kaum einen vernünftigen Satz heraus.
»Stop, denke ich. Du machst aus einem kleinen Besuch von Aristoteles schon wieder eine Riesenwelle, die doch gar nicht nötig ist.« Also besinne ich mich auf meine 3 W-Fragen für minimalistische Einsätze.
- Was ist das Wichtigste? – Meistens hat sich die Frage schnell erledigt: die Menschen 🙂
- Was habe ich bereits und kann es benutzen?
- Wie kann ich den Rest einfach halten und improvisieren?
Meine Schultern entspannen sich: Genau Lotte, immerhin geht es bei deinem Gast um einen Menschen, der erkannt hat, dass Liebe und Mäßigkeit das Zeug haben, die Welt zu retten. Ich schreibe Aristoteles also ein paar Zeilen – Er soll wissen, dass er willkommen ist – und verstaue den schlichten Zettel an der gewohnten Stelle im Briefkasten. Ich hole tief Luft: »Aristoteles kommt zu Besuch. Das glaubt mir kein Mensch. Was ziehe ich an? Es sollte schon schlicht sein. Aber auch was mit Personality. Er soll ja schon wissen, dass ich eine coole Braut bin.«
»Puh, Lotte, wie eitel ist das denn??! Gut, dass er das nicht gehört hat.» Hier spricht übrigens dein Verstand, wenigstens einer, der bei diesem ganzen Trubel die Ruhe bewahrt.
»Pfff, ich bin ja auch nur ein Mensch.« denke ich und entscheide mich für Jeans und schwarzen Pulli. Minimalistischer gehts wohl nicht. 🙂
Durch den Hausflur in meine Wohnung stapfend fühle ich eine kleine Nervosität aufkommen. Hoffentlich vermassle ich es nicht. »Denk an die 80/20 Regel« rufe ich mir gedanklich zu. Ich entspanne mich etwas. »Stimmt, 100 Prozent braucht wirklich niemand, erst Recht nicht mein kluger Gast.«
Was essen kluge Philosophen?
In meiner Küche angekommen sehe ich ihn auf der Holzablage liegen. Geduldig wartet er auf seinen großen Einsatz: mein Einkaufszettel. Beim Überfliegen sehe ich, dass meine Weihnachtsplanung einen kleinen Haken hat. Sie ist gedacht für normale Menschen. Nicht für einen Philosophen am Esstisch. Auf meiner Liste steht: 4 x Lachs, Kartoffeln, Brokkoli und Rosenkohl.
Hm, was essen minimalistische Philosophen eigentich? Wohl keine Gans und wahrscheinlich auch kein opulentes Reh. Ich schüttle nachdenklich mit dem Kopf. Ich glaube, ich liege gar nicht so verkehrt mit meinem Fisch/Gemüse-Menü.
Na ja, Menü ist auch etwas übertrieben. Nachtisch oder Vorspeise gibt es Gott sei Dank nicht, alles 100 Prozent im Aristoteles-Modus. Sehr gut.
Draussen fängt es an zu schneien. Wobei »schneien« die fantasievolle Umschreibung von HagelRegen-Tropfen mit irgendwie Weiß-Effekt ist. Was für ein trüber Tag, seufze ich. Bevor ich meinen schweren Gedanken die Tür öffne, schiebt sich meine Vorfreude auf Aristoteles davor.
Fragen an Herrn Aristoteles
Wow, er kommt tatsächlich. Ich schwelge kurz in der Vorstellung, wie meine 3 Freunde und ich und Aristoteles sich am Tisch gegenüber sitzen und gepflegte Konversation halten. »Ne, so nicht, rattert es in meinem Kopf. Wenn er schon mal da ist, werde ich ihm Löcher in seinen dicken antiken Bauch fragen.«
Ich gebe im Kopf die Jagd auf sinnvolle Fragen an Herrn Aristoteles frei. Ich starte ganz chillig mit:
Frage 1
Wenn du schon in der Antike, also 320 Jahre bevor Jesus auf die Welt kam, so unfassbar tolle minimalistische Denkansätze formuliert hast, warum sind wir Menschen dann heute gefühlt noch mal 2350 Jahre davon entfernt, in deinem Sinne zu leben?
Frage 2
Was würdest du als erstes tun, wenn du hier auf der Welt das Sagen hättest?
Frage 3
Gibt es Dinge, die du in deinem Leben bereust?
Frage 4
Liebst du Schokolade?
Diese Frage, Lotte , nehme ich, deine Intelligenz, aus dem Rennen. Streng dich bitte etwas mehr an. Ich meine, hallo!! A.R.I.S.T.O.T.E.L.E.S.!!!
Oki, ich bessere mich 🙂
Frage 5
Hast du eine Idee, wie die Menschen innerhalb kürzester Zeit lernen, das Leben zu lieben? Ich meine, wirklich zu lieben – mit allen Auf’s und Ab’s. Ich meine, zu schätzen und zu lieben, dass sie leben dürfen? Jetzt…
Frage 6
Findest du auch, dass die Liebe das Wichtigste auf der Welt ist?
»Hier ist wieder deine Intelligenz, Lotte. Also, was soll das? Du weißt ganz genau, dass dieser Spruch von Aristoteles ist«
»Wenn auf der Erde die Liebe herrschte,
wären alle Gesetze entbehrlich«
– Aristoteles –
»Ich weiß, liebe Intelligenz. Ich will doch nur ganz sicher gehen. Weil: Ich finde doch auch, es gibt nichts wichtigers. Aber manchmal steht meine Welt so Kopf, was die Liebe angeht, da brauche ich einfach einen extra schlauen Gedanken. Es könnte ja sein, dass ihm noch ein bisschen mehr einfällt, als das, was er vor 2350 Jahren gedacht hat.
Meine Intelligenz schüttelt den Kopf und sieht mich mit diesem Ich-gebe-auf-Blick an.
Ein Essen mit normalen Menschen
Ich mache eine kleine Pause und sehe mir meinen Fragenkatalog an. Ein kleines bisschen komisch fühle ich mich auf einmal. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was Aristoteles von meinen Fragen hält. Wahrscheinlich wollte er sich einfach mal entspannen und einen richtig netten Weihnachtsnachmittag mit normalen Menschen verbringen.
Was ist stattdessen sein Los? Eine Vorzeige-Minimalistin mit Schlaumeier-Brille macht ihm mit nervigen Fragen einen Strich durch die Rechnung. Okay, fasse ich einen Entschluss. So geht es auch nicht. Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, um an meine Antworten zu kommen. Dann weiß ich es: Ich lasse ihn komplett in Ruhe. Wir essen nett, er reibt sich anschließend seinen dicken Bauch und gerade dann, wenn er überhaupt nicht mehr mit einem Minimalisten-Angriff rechnet, schiebe ich ihm meine kleinen Fragen in seine Hosentasche. Was soll schon passieren? Im schlimmsten Falle wirft er meine Fragen einfach auf die Straße, sobald er aus dem Haus ist. Vielleicht aber macht er sich die Mühe und schreibt mir seine Antworten. Und es könnte ja auch sein, dass wir dann eine wunderbare Brieffreundschaft aufbauen….
STOP!
Ja, ja, ich weiß, meine alte Spielverderberin – die Intelligenz ist wieder am Start – Diesmal lass ich sie ihre Nase rümpfen. Es ist mir ganz egal, was Vestand und Intelligenz zu meiner neuen Liason mit Aristoteles meinen. Ich finde, wir passen sehr gut zusammen. Ein richtig hübsches minimalistische Weihnachtspaar…
Und falls Aristoteles doch nicht kommt, weil er sich zeitmäßig verplant hat, lege ich an seinen Platz einfach einen seiner alten Schinken. Wir lesen 10 Minuten draus vor und freuen uns über jeden einzelnen Bissen unseres Weihnachtsmahls – so richtig dankbar. So, als wäre es unser erstes Mal nach einer langen Hungerperiode. Ja, und dann halten wir uns unsere Bäuche und freuen uns sehr, dass wir uns lieben. Und, dass Weihnachten ist. Ob mit oder ohne Aristoteles.
♥ Fröhliche Weinachten! 🙂